„Wiiie? Du jetzt auch?“… Unglauben und tiefe Verachtung huschen über sein Gesicht. Ich fühlte mich seltsam überführt und an den Pranger gestellt. Als eine, die mindestens an verbotenen Früchten nascht oder sich, ohne zu erröten, in feiner Gesellschaft zum P§rn%okonsum bekennt. Vorverurteilt und für schuldig befunden. Noch dringlich zu Erledigendes wird vorgeschoben und das Gespräch erfährt einen schroffen Abbruch. Doch was war geschehen?
Ich hatte mich geoutet.
Geoutet, dass ich seit vielen Jahren meditiere. Dass ich mittlerweile sogar eine zertifizierte MBSR Lehrerin bin, die andere Menschen in diese offenbar immer noch irgendwie verpönte Kunst des achtsamen Lebens einführt. Achtsamkeit ist ja etwas für Weicheier. Für die spirituelle Räucherstäbchenfraktion. Für die wenigen psychisch Kranken, die nach Halt suchen. Sie ist lebensfremd. Und nur was für Buddhisten. So die seine und sonst wohl auch noch recht verbreitete Denke.
Was als ein angenehmes und gesprächiges Wiedersehen zwischen alten Bekannten begann, ließ mich am abrupten Ende desselbigen recht betroffen zurück. Meine achtsame Filterblase hatte eine Ruptur erlitten und mich einer anderen Realität erinnert. Ich stehe also da, mit gefühlt Tausend Fragen, die wie ein Crescendo ihren Höhenpunkt in einem emotionsgeladenen Synapsenfeuerwerk finden. Ein nachdenklicher Nachmittag verziert mit süßer Trostschokolade folgt.
Nun ja. Es gibt psychische Erkrankungen. Leider zuhauf. Und nicht ohne Grund. Wir brauchen keine jährlichen Krankenkassenberichte und Arzneimittelreports studieren, um uns zu vergewissern. Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, der zumindest an Angststörungen oder Depressionen leidet. Welch eine Wohltat ist es, eine Achtsamkeitspraxis kennenzulernen, die einen neuen Umgang mit dem Leidensdruck ermöglicht. Egal ob als selbst Betroffener oder Angehöriger von jemandem der im unguten Kreislauf kräfteraubender Ängste und dunkler Gedanken ein Gefangenendasein fristet und nicht mehr herausfindet. Das Licht der Achtsamkeit kann den Weg zurück ins neue Leben hell erleuchten. Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Bis sich (frei nach Johannes vom Kreuz) die dunkle Nacht der Seele lichtet und dieser Mensch neuen Lebensmut schöpft.
Achtsamkeit ist nichts aufregenderes als eine Fähigkeit der Seele, die schon natürlicherweise in jedem von uns veranlagt und in unterschiedlichen Graden ausgeprägt ist. Und sie lässt sich mit bestimmten Übungen gezielt kultivieren. Ganz ohne Räucherstäbchen und wallend bunten Gewändern. Selbst dann, wenn wir gerade mit beiden Beinen fest auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sie hilft uns in diesem Falle, ein noch angenehmerer Zeitgenosse zu werden. Für uns selbst und für diejenigen, die uns tagein, tagaus ertragen (dürfen). Freundlich, mitfühlend, einfühlend, wirklich liebend, offen und weitestgehend ohne Vorurteil, klar denkend und sehend, geduldig, zugewandt, interessiert, ehrlich, loyal, stabil und resilient – alles „Nebenwirkungen“ einer achtsamen gezielt kultivierten inneren Haltung. Wie klingt das für dich? Erstrebenswert oder nur für einen lebensfremden Zeitvertreib geeignet? Was Cicero einst in der cultura animi mittels Philosophie fand, finde ich heute in der Achtsamkeitspraxis wieder.
Möglicherweise bist du auch jemand, der die Achtsamkeit in ausschließlich esoterisch-spirituelle Gewässer ohne festen Boden verortet. Die Lupe aufs Innerste gerichtet können wir aber sagen: wir sind alle spirituell. Egal, ob auf traditionelle (buddhistische) Art oder ob wir in religiöser Manier und gänzlich neumodern dem Mammon oder Veganismus huldigen. Spirituell sein heißt im Grunde nichts anderes als an etwas zu glauben. Sich innerlich an bestimmten ureigenen Werten auszurichten. An etwas, das einem als Antrieb für das eigene Handeln dient und ein gutes Leben ermöglicht. Was ist mir von so großem Wert, dass ich es als Richtschnur für das eigene Leben anlege? Von was lasse ich mich im Leben leiten und wofür lohnt es sich wirklich zu leben? Sind die Werte, die ich bisher verinnerlicht habe in Einklang mit mir selbst und schenken einen Lebenssinn? Alles Überlegungen und Fragen, die als spirituell angesehen werden können.
Achtsamkeitspraxis kultiviert unseren Geist und unsere Seele oder noch vollmundiger ausgedrückt: Sie lässt uns zu noch besseren Menschen werden, die noch bessere Entscheidungen für sich selbst, die Mitmenschen und die Welt im Allgemeinen treffen lässt. Ihr lebt eine transformative Kraft inne. Sie ist allerdings nichts für Feiglinge, die lieber die ruhige Oberfläche des Sees genießen als sich in die dunkle Tiefe tauchend hineinzuwagen, die dort lauernden Monster zu besiegen, um von dort mit ungeahnten Schätzen zurückzukehren. Sie ist etwas für Mutige. Unabhängig ob sich gerade der Schleier einer psychischen Erkrankung über ihr Wesen legt oder der Frohsinn sie das Leben tänzelnd beschreiten lässt. Die Achtsamkeit ist für die Art von Menschen, die die Bereitschaft mitbringen, sich auf Neues einzulassen, um selbst die Erfahrung zu machen welche Wirkungen von ihr ausgehen. Gänzlich ohne Vorverurteilung. Um dann selbst mit klarem Geist und aus Erfahrung heraus mitreden zu können. Vielleicht wird dann die Nase weniger häufig über die vermeintlich lebensfremden und psychisch Verkommenen gerümpft. Und vielleicht kommt dann auch mehr Mitgefühl und Liebe in die Welt.
Was denkst du darüber, also über die Achtsamkeit? Alles lebensfremder Käse oder was?
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Shima Asghari (Samstag, 01 Januar 2022 17:43)
Der Achtsamkeitskurs bei dir war das Beste, was mir je passiert ist.
Ich danke dir dafür.
Andere dürfen darüber denken, was sie wollen.
Die Spiritualität schützt sich selbst, dass sie nicht für jeden zugänglich ist. Astrophysik und mathematische Formeln sind auch nicht für jeden zugänglich und verständlich...